-->
Direkt zum Seiteninhalt
Abschlussveranstaltung des Wettbewerbs ERZÄHL MIR WAS
VERLAG RENATE BRANDES IN ALTENRIET
Veröffentlicht von Renate Brandes in Vermischtes · Montag 28 Nov 2022
Tags: LesungSchreibwettbewerbFinaleKriegundFriedenTiefflieger

Mannheimer MorgenAutorin Regina Rothengast hat an der Abschlussveranstaltung des Wettbewerbs ERZÄHL MIR WAS des Mannheimer Morgen teilgenommen


"meine" Autorin Regina Rothengast hat an der Abschlussveranstaltung des Wettbewerbs ERZÄHL MIR WAS des Mannheimer Morgen zusammen mit den anderen Finalistinnen und Finalisten teilgenommen.

Es war eine schöne und inspirierende Lesung zum Thema KRIEG UND FRIEDEN und Regina war ganz schön aufgeregt, als sie ihre Geschichte TIEFFLIEGER vor dem Publikum vorgelesen hat. Aber Chapeaux! - es hat allen sehr gefallen!

Die Autorin hat bereits ihr Debüt Sandalen im Winter und aktuelle das zweite Buch Meine wundervolle Weihnachtsmischung veröffentlicht. Lesen Sie hier nun die Geschichte

TIEFFLIEGER

 
„Bis später, Mama!", rief Lene, packte ihren Schulranzen und stürmte aus dem Haus, um den Zug in die nahegelegene Kreisstadt zu erreichen.
„Pass auf dich auf, Lene!“, hörte sie die sorgenvolle Stimme der Mutter, drehte sich noch einmal um und winkte. Stolz schaute die Frau ihrer Tochter hinterher. Ihr Lenchen hatte es tatsächlich auf das Gymnasium geschafft. Nur wenige Mädchen besuchten zur damaligen Zeit diese weiterführende Schule. Es war ein Tag im November 1944, der für Lene zum letzten Schultag am Gymnasium werden sollte.
 
Der Lärm war ohrenbetäubend. Das Heulen der Sirenen, die tieffliegenden Flugzeuge, die Schüsse, das Schreien der Passagiere, das Weinen der Kinder. Lene verharrte zitternd zwischen all den panischen Menschen.
„Raus hier“, schrie Elisabeth, ein älteres Mädchen, und zog Lene am Arm. Die Schülerin wusste nicht genau, was los war. Nur dass der Zug auf freier Strecke anhielt und sich draußen die Hölle aufgetan hatte. Sie sah durch das Fenster, wie Flugzeuge über den Zug donnerten, abdrehten und wieder zurückkamen. Pausenlos feuerten sie auf das Schienenfahrzeug. Beschuss durch Tiefflieger!
Elisabeth riss die Zugtür auf und gab Lene einen Stoß. Sie rollten zusammen mit einem halben Dutzend anderer Kinder und Jugendlichen aus dem kleinen Dorf die Böschung hinunter.
Neben Lene kauerte das ältere Mädchen und sagte: „Duck dich, versteck dich im Gestrüpp und wenn es geht, rennen wir so schnell wie möglich nach Hause.“
Lene nickte angstvoll. Die Ortschaft war nicht weit entfernt. Sie mussten nur am Bahndamm entlang, dann über eine kleine Brücke und schon hätten sie das Dorf erreicht. „Ich habe solche Angst, Elisabeth“, flüsterte Lene. Wieder schoss ein Flieger über ihre Köpfe hinweg. Elisabeth beobachtete die Maschinen stumm und konzentriert aus ihrer Deckung heraus.
 
Als sie sah, dass sie gerade davonflogen, um zu wenden, rief sie schrill: „Jetzt. Lauf, lauf, Lene!“ Die Mädchen rannten die Straße entlang, versuchten das Inferno hinter sich zu lassen und die rettende Bebauung zu erreichen. Mit ihnen lief die kleine Schar, welche sich auch aus dem Zug gerettet hatte. Die kleine, zarte Lene konnte nicht mithalten. Sie bekam keine Luft mehr, die Beine drohten zu versagen. Panisch hörte sie hinter sich die sich wieder nähernden Kampfflugzeuge und die Gewehrsalven. Sie flogen so tief, dass sie meinte, den Kopf einziehen zu müssen. Gleich waren sie an der kleinen Brücke und könnten sich darunter verstecken. Plötzlich sah sie, wie Elisabeth strauchelte und ein paar Meter vor ihr mit dem Gesicht nach vorne zu Boden fiel.
„Elisabeth, steh auf, wir müssen weiter“, schrie Lene. Doch die Freundin rührte sich nicht mehr. Lene stolperte fast über das am Boden liegende Mädchen. Im letzten Moment sprang sie über den leblosen Körper und starrte in maßlosem Entsetzen auf das Blut, welches aus der riesigen Rückenwunde austrat. Sie war wie erstarrt.
„Die ist tot. Renn um dein eigenes Leben“, brüllte Egon neben ihr.
Laut weinend näherte sich Lene zusammen mit der kleinen Gruppe den ersten Häusern. Schon von weitem sah sie die Frau am Gartenzaun stehen. Elisabeths Mutter!
„Lene, Egon“, rief diese voller dunkler Vorahnung und packte Lene am Arm. „Wo ist Elisabeth? Kommt meine Elisabeth auch gleich?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf, lief weiter und hörte noch lange die gellenden, herzzerreißenden Schreie der Mutter.
Lene hatte die Augen geschlossen. Ihr Atem ging rasselnd. Vorsichtig fuhr Marianne mit einem feuchten Waschlappen über ihre Stirn. „Was machst du denn für Sachen, Mama?“, fragte sie und blickte besorgt auf ihre Mutter.
„Es geht alles wieder los. Der Krieg, das Sterben…“, flüsterte die alte Dame, ohne die Augen zu öffnen. „Wie kann das sein? Haben die Menschen denn nichts dazugelernt? Siebenundsiebzig Jahre lang Frieden. Und nun wieder Krieg in Europa. Diese Bilder im Fernsehen. Die armen Menschen, die ihr Leben geben müssen, weil verantwortungslose Politiker an der Macht sind und einen dritten Weltkrieg riskieren. Ich muss so oft an Elisabeth denken. Sie hat mich damals gerettet. Ihr junges Leben wurde so sinnlos ausgelöscht, wie das von Millionen anderen auch. Diese Bilder aus der Ukraine. Es geht wieder los…“ Ihre Stimme erstarb.
Marianne wusste nicht, was sie antworten sollte. Auch ihr machte die momentane Situation große Angst. Durch die Nachrichten bekam das Entsetzen täglich neue Nahrung. Der Horror lauerte nur darauf, sich in die Köpfe zu schleichen.
 
Der Anruf der Heimleitung hatte sie vor einer Stunde auf ihrer Arbeitsstelle erreicht und sie war gleich zu der Mutter geeilt. Zusammen mit den anderen Seniorinnen und Senioren hatte ihre Mutter Lene die Nachrichten im Fernsehen verfolgt. Die Berichte über das Kriegsgeschehen in der Ukraine hatten sie dermaßen aufgewühlt, dass sie einen Schwächeanfall erlitten hatte. Nun lag sie erschöpft in ihrem Bett. Der Arzt wollte später noch vorbeikommen. Marianne machte sich ernsthaft Sorgen um die über Neunzigjährige.
„Mama, alles wird gut“, versuchte sie die Mutter zu trösten.
Da öffnete Lene zum ersten Mal die Augen, schaute ihre Tochter strafend an und erwiderte: „Alles wird gut? Gar nichts wird gut. Du brauchst nicht mit mir zu sprechen wie mit einem Kleinkind. Ich bin zwar alt, aber noch bei Sinnen.“
Marianne lächelte in sich hinein. Das war ihre Mama. So war sie immer gewesen, ohne falsches Pathos, voll Empathie und Liebe. Das Herz am rechten Fleck. Niemals hatte sie ihren Humor verloren, war nicht verbittert, trotz aller Schicksalsschläge, die das Leben für sie bereitgehalten hatte. Wie oft hatte sie ihrer Familie vom Zweiten Weltkrieg erzählt. Nach dem schrecklichen Erlebnis, bei dem Elisabeth erschossen worden war, fuhren keine Züge mehr in die Kreisstadt. Lene konnte nicht weiter auf das Gymnasium gehen. Sie besuchte wieder die Dorfschule und half den Eltern bei der Landwirtschaft, zusammen mit ihren Schwestern. Ihr älterer Bruder wurde bei den Kampfhandlungen im Osten wohl getötet, galt als vermisst. Die Nachricht über das Schicksal des einzigen Sohnes hatte ihrem Vater das Herz gebrochen. Die Tränen des Vaters hatten sie sehr verstört. Nie zuvor hatte sie ihn weinen sehen und nie mehr danach.
Nun lag diese tapfere Frau, die Marianne so sehr liebte, vor ihr. Kraftlos und verängstigt. Lene schaute ihr in die Augen.
„Gar nichts wird gut“, wiederholte sie. „Bald wird es keine Zeitzeugen mehr geben, die den Zweiten Weltkrieg erleben mussten. Niemanden mehr, der die folgenden Generationen warnen kann: Hört auf! Legt die Waffen nieder! Krieg ist die schlechteste Lösung! Frieden! Alle Menschen sollten ein Recht auf Frieden haben.“ Die Stimme versagte ihr fast, aber sie fuhr fort: „Nie hätte ich gedacht, dass ich das alles noch einmal sehen muss. Vielleicht sogar bald mit eigenen Augen und nicht nur im Fernsehen. Wie kann jemand nach den Gräueln der Weltkriege auf die abscheuliche Idee kommen, so ein Szenario wieder heraufzubeschwören und den Weltfrieden zu riskieren? Diese Bilder aus der Ukraine, Bilder von Bombeneinschlägen, Zerstörung, Flucht, Flüchtlingen, Familien, die auseinandergerissen werden, Frauen mit weinenden Kindern im Arm lassen mich die damaligen Geschehnisse wieder und wieder erleben. Jede Nacht sehe ich die Tiefflieger über mir ihre Kreise ziehen, höre das Heulen der Sirenen, die ratternden Gewehre, die verzweifelten Schreie von Elisabeths Mutter. Und ich sehe, wie das Blut aus Elisabeths zerfetztem Körper schießt.“
Marianne wunderte sich über ihre Mutter, die trotz des Zusammenbruchs zu dieser ergreifenden kleinen Rede fähig gewesen war, und sagte tröstend: „Mama, ich verspreche dir, dass ich zumindest dafür sorgen werde, dass deine und Elisabeths Geschichte nicht vergessen wird. Sie soll eine Warnung vor allem für junge Menschen sein, wie Krieg nicht nur Leben, sondern auch Träume und Hoffnungen zerstört. Ich werde alles niederschreiben, wie du es mir immer und immer wieder erzählt hast.“
Es klopfte an die Türe. Der Arzt betrat das Zimmer. Lene ließ die Untersuchung schweigend über sich ergehen. Sie bekam eine Beruhigungsspritze.
„Ihre Mutter ist zwar grundsätzlich in einer guten Verfassung, aber sie darf sich nicht zu sehr aufregen. Blutdruck und Herzfrequenz gefallen mir gar nicht“, sagte der Mediziner leise zu Marianne und wandte sich zum Gehen. „Ich komme morgen wieder vorbei. Am besten wäre es, sie stationär aufzunehmen.“
„Das können Sie vergessen, junger Mann“, rief Lene ihm nach. „Wenn ich sterbe, dann ist das eben so. Ich durfte mein Leben leben, im Gegensatz zu vielen anderen.“
Lenes Blick schweifte zum Fenster hinaus. Die Natur zeigte sich im Frühjahr 2022 von ihrer schönsten Seite. Sie erblühte nach dem kalten Winter zu neuem Leben. Man konnte und wollte angesichts dieser Pracht nicht an Tod und Verderben denken. Der erwachende Frühling und die wärmende Sonne verscheuchten alles Dunkle und doch war das Grauen da, so nah wie schon lange nicht mehr. Lene drückte die Hand ihrer Tochter und schloss die Augen.


Zurück zum Seiteninhalt