Heb die Fahne höher in den Wind, Kleiner! - VERLAG RENATE BRANDES IN ALTENRIET

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BELLETRISTIK.

Am 17.01.2021 fand das Spiel FC Bayern München : SC Freiburg (2:1) statt. Zuvor hatte Autor Martin Bartholme, Mitbegründer der Fan-Initiative „Der SC Freiburg ist bunt nicht braun“, eine Geschichte von geschrieben. Viel Spaß beim Lesen und….
"Heb die Fahne höher in den Wind, Kleiner!"

Ich hatte mich schick gemacht. Wie eine Braut an ihrem großen Tag, wie ein Fernsehmoderator vor seinem großen Auftritt. Seit Stunden arbeitete ich an meinem Outfit. Für dieses Highlight musste ich gut vorbereitet sein. Trikot, Schal, Cappy, Fahne - klare Sache. An den Handgelenken noch ein paar selbstgedrehte Armbänder, mit Schminke zwei Streifen der Vereinsfarben ins Gesicht. Fertig war die Festtagsgarderobe. Das weiß/rote Trikot hatte ich vor zwei Jahren zu meiner Erstkommunion von Verwandten geschenkt bekommen und war mir immer noch einige Nummer zu groß. Beinahe bis zu Kniescheibe hing mir das Stück Polyester. Für die 1 1/2 Meter große Fahne hatte ich schon seit einer Weile keinen Stock mehr.

>>> Kurz entschlossen suchte ich im Garten nach einem passenden Ersatz. Mutters Besenstiel? Da würde ich sicher Ärger bekommen. Vaters metallene Pflanzenstäbe, an denen bald die Tomatenstauden wachsen sollten? Eisenstäbe waren im Stadion sicher nicht erlaubt. Dann musste wohl das alte Tipi dran glauben. Drei-Meter-Bambusstöcke, die passende Länge für den großen Anlass. Ein wenig wehmütig, aber dennoch fest entschlossen, schnitt ich das Tuch des Indianerzeltes auseinander, um an das hölzerne Gerippe zu kommen. Geschafft! Ich band den Fahnenstoff um den Bambus und schwang den Stock einige Male durch die Luft. Hielt! Eine jubelnder Fußballer neben dem großen Wappen meines Lieblingsclubs zierte die Flagge. Nun konnte es losgehen. Ich war bereit. Mein erstes Auswärtsspiel. Nicht gegen irgendwen, nicht irgendwo. Nein! Gegen den Krösus der Liga. Gegen den Giganten des deutschen Fußballs. Nach München zu den übermächtigen Bayern.

 
Mit einer befreundeten Familie fuhr ich den weiten Weg in die bayrische Landeshauptstadt. Voller Vorfreude warteten wir am Bahnhof der nächstgrößeren Stadt auf die Einfahrt des Zuges. Ich war zum ersten Mal unterwegs mit einem Intercity Express. Behände und beinahe lautlos erreichte der weiße Schnellzug unseren Bahnsteig. Kein Vergleich zu den mir bekannten schwerfälligen und lauten Regionalzügen. Die Türen öffneten sich, Menschen stiegen aus, Koffer wurden gewuchtet, leichtes Gedrängel - wir stiegen ein. Ungeschickt versuchte ich den langen Stab meiner Fahne durch das Abteil zu balancieren. Die Fahrgäste schauten mich erstaunt an. Ein kleiner Junge mit einer so großen Flagge. Ein komisches Bild. Ich war mir der vielen Blicke der Mitmenschen bewusst und konzentrierte mich. Bloß nirgendwo anstoßen, Stock gerade halten. Nach kurzer Zeit fühlte ich mich sicherer. Durch die letzten zwei Abteile schulterte ich die Fahne stolz wie eine Reliquie. Der heilige Gral auf dem Weg ins legendäre Olympiastadion.

 
Es war die Saison 1996/ 1997, 31. Spieltag. Der SC stand mit 22 Punkten abgeschlagen im Tabellenkeller. Das rettende Ufer war nicht mehr zu erreichen. Zum ersten Mal nach dem Aufstieg in die erste Liga vier Jahre zuvor und der Geburt der „Breisgau Brasilianer“ wurden die Flügel des Greifs zurechtgestutzt. Der kleine Club aus Südbaden, nach Jahren des Überflugs, kurz vor dem Fall in die Wirklichkeit. Dem schmächtigen David waren im Laufe der Saison schlicht und einfach die Steine ausgegangen. Noch wenige Male durften wir die Luft der Beletage schnuppern, durften uns mit den besten Vereinen des Landes messen, in naher Zukunft dann wieder der schmutzige Staub des Unterhauses einatmen. Gütersloh, Wattenscheid, Unterhaching - nicht gerade der Nabel der Fußballwelt. Aber wenn man ehrlich war, einen Brasilianer hatte es beim Sportclub eh noch nie gegeben und Goliath konnte man nicht jedes Jahr besiegen.

 
Nach Stunden im Zug erreichten wir München. In den Kneipen und Restaurants wurde nur darüber diskutiert, mit welcher Packung man die Freiburger heute wohl zurück in den Schwarzwald schicken würde. Die Stimmung war eindeutig. 4:0, 5:0 oder vielleicht sogar mit einem halben Dutzend? Keine Chance für den Underdog. Als wir das Olympiastadion erreichten, stockte mir der Atem. Dieses riesige Bauwerk, die elegante Dachkonstruktion. Ich war schwer beeindruckt. Bei der Einlasskontrolle änderte sich meine Gefühlslage. Die Fahne sei zu lang, meinte der Ordner. Der Stock dürfe maximal so groß sein wie die Körperlänge. Was für eine Enttäuschung. Den ganzen Weg über hatte ich mir einen abgeschleppt, mein Indianerzelt zerschnitten, im Zug mich im Balancieren geübt, nur um unser Wappen so hoch wie möglich in das Münchener Firmament strecken zu können. Jetzt sägten diese Schweine kompromisslos meinen Stab entzwei. Wütend und mit Tränen in den Augen setzte ich mich wenig später auf meinen Sitzplatz. Die Fahne legte ich auf den Boden. Hier wedelten Hunderte von Kindern ihre Flagge, da würde meine, nun deutlich kleinere, überhaupt nicht mehr auffallen.

Das Spiel begann und der SC hielt dagegen. Dieses Looserteam, welches in 30 Spielen lediglich sechs mal gewinnen konnte und bereits 65 Gegentore kassiert hatte, fightete um jeden Ball. Uwe Spieß, unser „Strafraum-Melancholiker“, machte im Sturm den ersten Verteidiger, Damir Buric warf sich in jeden Zweikampf und Jörg Schmadtke zeigte gleich mehrere Glanzparaden. Je länger die Partie dauerte, desto zuversichtlicher wurde ich. Da präsentierte sich eine Einheit, gewillt der Fußballnation zu beweisen, dass man nun erhobenen Hauptes den schweren Gang in die Zweitklassigkeit antreten werde. Die Bayern wurden zusehends nervöser. Sie spielten um die Meisterschaft, da musste man zu Hause um jeden Preis gegen den Absteiger gewinnen. In der 80 Minute, beim Stande von 0:0, wurde der Weltstar Jürgen Klinsmann von Trainer Trapattoni gegen den Jugendspieler Carsten Lakies ausgewechselt. Die Höchststrafe. Klinsmann freundete sich mit einer Werbetonne an und verließ stinksauer das große Rund. Jetzt nur noch die Nachspielzeit überstehen, dann war es geschafft. Es ging nie darum hier zu siegen, nicht mal eine goldene Ananas konnten wir uns an diesem Tag verdienen, nur ein bisschen den Respekt der Zuschauer zurückgewinnen. Ein Unentschieden, wie ein Triumph. Mit dem letzten Stein schoss der kleine David seine Schleuder und traf den übermächtigen Riesen empfindlich. Noch eine halbe Stunde nach dem Schlusspfiff wurde im Gästeblock Polonaise getanzt.

 
Als wir wenig später durch den Olympiapark in Richtung U-Bahn schlenderten, sprach mich eine ältere Dame mit SC-Schal an. Sie sagte: „Heb die Fahne höher in den Wind, Kleiner!“ Und das tat ich. Voller Stolz, so hoch es ging, hinauf in den Münchener Abendhimmel.
 

 
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