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"Wiege der Menschheit" von Martin Bartholme
VERLAG RENATE BRANDES IN ALTENRIET
Veröffentlicht von Renate Brandes in Belletristik · Dienstag 13 Dez 2022
Tags: KurzgeschichteBelletristikUkraineKriegAfrika
„Wir schreiben das Jahr 2036. In Europa herrscht Krieg. Alexander sitzt im Schneidersitz vor einem großen Zelt, gemeinsam mit einer Handvoll anderer Männer, in einem Flüchtlingslager in Kalabrien, Süditalien."
 
So beginnt die Geschichte "Wiege der Menschheit" von Martin Bartholme, veröffentlicht im Jahr 2020. Der Autor hat weit vorausgedacht... Eine Vision, die hoffentlich nie Realität wird. Wir haben es jetzt in der Hand…


Wiege der Menscheit


 
Wir schreiben das Jahr 2036. In Europa herrscht Krieg. Alexander sitzt im Schneidersitz vor einem großen Zelt, gemeinsam mit einer Handvoll anderer Männer, in einem Flüchtlingslager in Kalabrien, Süditalien. Ein leichter Wind weht vom Meer herüber und pustet dem Mann die Haarlocken ins Gesicht. Ein ausgemergeltes Gesicht mit Sorgenfalten auf der Stirn und tiefen Rändern unter den Augen. Sie haben einen weiten Weg hinter sich. Sein 8-jähriger Sohn Max und er. Über 1.800 Kilometer - aus einer mittelgroßen hessischen Stadt - an die Stiefelspitze des Kontinents. Eine anstrengende und gefährliche Flucht.
 
 
Die Hauptstraßen wurden kontrolliert, der Luftraum war für Passagierflugzeuge unpassierbar. So reisten sie in Kofferräumen unauffälliger Autos, auf Feldwegen oder zu Fuß - immer weiter gen Süden. Meist bei Nacht. Im Schutz der Dunkelheit. Stets wachsam, mit der Angst im Nacken und der Trauer in ihren Herzen.
 
Alexander hatte fast alles verloren. Einen Großteil seiner Familie, sein Haus, seine Heimat. Vor fünf Monaten, sechzehn Tagen und acht Stunden brach die Hölle über ihn herein und änderte sein Leben innerhalb von Sekundenbruchteilen. Er wohnte mit seiner Frau Isabella, seinem Sohn Max und seiner zweijährigen Tochter Stefanie in einem kleinen Einfamilienhaus am Rande des Industriegebietes von Hanau. Ein kleines Gebäude aus roten Backsteinen mit zwei Apfelbäumen im Vorgarten und einem Sandkasten für die Kinder. Isabella hatte das Anwesen 2029 von ihren Eltern geerbt. Gemeinsam richteten sie es ein. Machten das Haus wohnlich, deckten das Dach neu und strichen die Fassade. Es wurde zu ihrem Hort, zu ihrem sicheren Hafen. Ein Ort, an dem sie alt werden wollten. Nun war es ein Haufen aus Schutt und Asche. Ein tiefer Krater aus Geröll und Stein. An einem grauen Februarmorgen zerstörte eine Rakete ihr kleines Paradies. Die Drohne am Himmel wollte das nahegelegene Industriegebiet treffen und es vernichten. In weiter Ferne hatte eine Person den roten Knopf minimal zu spät gedrückt und sein ursprüngliches Ziel um Haaresbreite verpasst. Stattdessen explodierte das Geschoss inmitten ihres Hauses. Erst beim zweiten Versuch wurden die Lagerhallen und Produktionsstätten getroffen. Alexander war zu dieser Zeit an seiner Arbeitsstelle in Frankfurt/Main. Als er eine Stunde später nach der Frühschicht zu Hause eintraf, stand sein Leben in Flammen. Wie in Trance durchschritt er das Trümmerfeld, auf der Suche nach seiner Familie. Kurz darauf fand er an der Stelle, an der einst der Sandkasten stand, die zerfetzten Leiber seiner kleinen Tochter und seiner geliebten Ehefrau. Er brach zusammen. Ohnmacht. Dunkelheit. Stille.
 
Als er wieder erwachte, lag er in einem Krankenhaus. Was machte er hier? Hilflos versuchte er seine Gedanken zu sortieren. Urplötzlich kehrte die Erinnerung zurück und entriss ihm erneut den Boden unter den Füßen. Ein Mann betrat den Raum und sprach mit ruhiger Stimme auf ihn ein. Er erklärte Alexander, dass es seinem Sohn Max gut gehen würde. Er wäre zum Zeitpunkt der Detonation bereits in der Schule gewesen und würde jetzt im Nachbarzimmer psychologisch betreut werden.
 
»Nicht alle!«, schoss es Alexander erleichtert durch den Kopf! Sein Sohn lebte!
 
In den schmalen Hoffnungsschimmer mischte sich ein tiefer Schmerz, rasende Wut, unbändiger Hass.
 
»Warum sie? Warum nicht ich?«, fragte er sich.
 
Niemand konnte ihm eine Antwort geben. Er haderte mit Gott und verfluchte die Teufel, die ihnen das angetan hatten. Es war nicht ihr Krieg. Sie hatten keiner Menschenseele etwas zu Leide getan und dennoch waren zwei seiner Liebsten nun tot. Sinnlose Opfer. Für die Menschen in ihren Kommandozentralen nur ein kleiner Kollateralschaden, den man wohl oder übel in Kauf nehmen musste. Für ihn seine ganze Existenz. Er wollte sterben. Wollte sein Herz herausreißen und es Satan zum Tausch anbieten. Wollte seine Seele pfänden für die Möglichkeit, die Zeit zurückdrehen zu können. Doch niemand kam, um ihm einen Handel anzubieten. Mitten in diesem Gedankensturm klopfte es an der Türe. Erwartungsvoll blickte er hinüber. Sie brachten Max in das Krankenzimmer. Der Junge klammerte sich an seinen Vater und vergrub sein Gesicht tief in Alexanders Schultern. Max‘ Tränen durchnässten das Hemd. Er drückte ihn fest und zugleich voller Zärtlichkeit. Alexander spürte das pulsierende Leben seines Kindes und wusste - für ihn musste er weitermachen!
 
Tage später wurden alle 20- bis 50-jährigen zum Wehrdienst einberufen. Sie hatten drei Wochen Zeit, sich bei der zuständigen Behörde zu melden. Wer sich weigerte, wurde inhaftiert. Bisher waren alle Kriegshandlungen lediglich von Drohnen und den neumodischen Kriegsrobotern vollzogen worden. Nun wurden zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg wieder alle männlichen Deutschen verpflichtet, ihrem Vaterland zu dienen und es zu verteidigen. Alexander dachte nicht im Traum daran, seinen Jungen der Obhut des Staates zu überlassen und sein Leben für diesen Irrsinn aufs Spiel zu setzen. Er hatte schon genug gegeben, genug gelitten. Er packte das Nötigste ein, hob bei der Bank sein restliches Geld ab, nahm Max an die Hand und gemeinsam machten sie sich auf den Weg in Richtung Süden. Zurück zur Wiege der Menschheit.
 
Innerhalb weniger Jahre hatte sich Europa von einem friedlichen und reichen Kontinent in einen Erdteil ohne Hoffnung gewandelt. Die Menschheit des Abendlandes knipste ihrer Heimat peu à peu die Lichter aus, bis der letzte Funke Zuversicht durch Misstrauen, Größenwahn und Nationalstolz erstickt wurde. Vom Atlantik bis zum Ural-Gebirge war die Welt dabei, sich in ein Trümmerfeld zu verwandeln. Ein Szenario, welches man vor zehn Jahren noch für undenkbar gehalten hätte, war nun grausame Realität. Die Europäische Union, der Staatenverbund, brach vor sechs Jahren auseinander. Die heutigen, unmenschlichen Verhältnisse hatten ihren Ursprung allerdings schon deutlich früher. Zu Beginn der zwanziger Jahre kapselte sich die britische Insel vom Festland mit dem Brexit ab. Andere Länder folgten diesem Beispiel. Der Euro als Währung wurde abgeschafft. In Deutschland zahlte man nun wieder mit der Deutschen Mark. Auf dem ganzen Kontinent waren die Rechtspopulisten auf dem Vormarsch und eilten von Wahlerfolg zu Wahlerfolg. Heute stellten sie in den meisten Ländern die Regierungen und hatten Demokratien durch Diktaturen ersetzt. Freie Wahlen gab es kaum noch. Ebenso wenig wie offene und tolerante Gesellschaftsformen. Die Menschen sollten gleich sein. In ihrem Wesen, in ihrer Einstellung. Konformität als Zukunftsmodell. Kritische Berichte im Internet und in den wenigen Printmedien wurden verboten oder als Lügenpresse diffamiert. Muslime wurden verfolgt, wie ein Jahrhundert zuvor die Juden. Menschen, die sich dem System widersetzten, konnten als Volksverräter ermordet oder in Lager interniert werden. Geschichte hatte sich trotz aller Mahnung und Aufklärung wiederholt. Auch die Vereinigten Staaten und Russland hatten miteinander gebrochen. Beide stritten über die Vormachtstellung in der Arktis. Durch den Klimawandel war der Nordpol inzwischen beinahe eisfrei. Die riesigen Mengen an Bodenschätzen, darunter Öl und Erdgas, verführten die Weltmächte zu einem Wettlauf um die besten Claims. Für lange Zeit lediglich ein verbaler Konflikt, mittlerweile ein mörderischer Krieg. Die Kommunikation der Supermächte hatte sich zunächst auf knappe Drohbotschaften auf Twitter reduziert, mit der Zeit folgten darauf Taten. Die europäischen Länder positionierten sich für eine der beiden Seiten. Alle mit der Hoffnung, ein Stück des Kuchens abzubekommen. Imperialismus des 21. Jahrhunderts. Es dauerte nicht lange, bis diese Umstände die kurze Lunte des Wahnsinns zum Erglimmen brachte. Das Pulverfass war am Explodieren. Austragungsort: Die alte Welt - Europa.
 
 
Ganz im Gegenzug hierzu hatte sich der afrikanische Kontinent in den letzten Jahren prächtig entwickelt. Vom Armenhaus des Planeten zum sicheren Zufluchtsort für viele Gestrandete. Auferstanden aus Ruinen. Wie ein schwarzer Phönix aus der staubigen Asche. Nach dem Beginn der großen Flüchtlingskrise vor 21 Jahren hatten die reichen Industriestaaten ihre Entwicklungshilfe verzehnfacht. Ein Großteil floss nach Afrika. Viele der Länder investierten das Geld sinnvoll. In die Bildung, in die Förderung der regionalen Wirtschaft und den Tourismus. Riesige Solarfelder wurden in den großen Wüstengebieten des heißen Erdteils installiert. Der hierbei erzeugte Strom reichte für den ganzen Kontinent und konnte per Gleichstrom-Leitungen sogar nach Europa transportiert werden. Ein Milliardengeschäft. Seit vier Jahren gab es zudem in Afrika zum ersten Mal seit Jahrhunderten praktisch keine kriegerische Auseinandersetzung mehr. In der Afrikanischen Union waren die Länder vereint und vertraten gemeinschaftlich ihre wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Interessen. Der Korruption wurde der Kampf angesagt. Viele der wertvollen Rohstoffe des Kontinents wurden endlich unter fairen Bedingungen veräußert. Die Ausbeutung der dritten Welt hatte zumindest in Afrika ein gutes Ende gefunden. Mit dem steigenden Wohlstand wurde auch das Problem der Überbevölkerung nach und nach verringert. Jetzt schon brachten die Frauen durchschnittlich 1,2 weniger Kinder zur Welt als noch vor fünfzehn Jahren. Die Auslöser der gravierenden Seuchen wurden bekämpft. Aids und Malaria waren rückläufig. Ein Kontinent, der Jahrhunderte lang von den reichen westlichen Staaten unterdrückt worden war, konnte zuversichtlich nach vorne blicken. Die Zukunft versprach blühende Landschaften.
 
 
Afrika ist das große Ziel. Heute Nacht würden sie es wagen. Alexander macht sich Gedanken. Er betrachtet seinen schlafenden Sohn und streicht ihm vorsichtig über das Haar.
 
»Was musste der Junge schon alles erleiden«, schießt es ihm durch den Kopf.
 
Hoffentlich wendet sich bald alles zum Besseren. Aber die Überfahrt ist lang und gefährlich. Können sie dem Schlepper vertrauen? Haben sie genug zu Essen und zu Trinken für die beschwerliche Reise? Ist der Wettergott ihnen gewogen? Fragen über Fragen. Er zermartert sich das Gehirn. An Schlaf ist nicht zu denken. Gegen Mitternacht weckt er Max auf. Sie schleichen aus dem Lager und machen sich auf den Weg zu einer kleinen Bucht, wenige Kilometer weiter westlich. Dort ist der Treffpunkt. Alexander hat einen Rucksack mit dem Nötigsten auf den Schultern. Nach einer Weile legt er eine Decke über seinen Sohn und leuchtet mit der Taschenlampe auf den schmalen Pfad entlang der Felsen. Die Nacht ist finster und kalt. Vor wenigen Jahren hatten sie hier in der Gegend noch ihren Badeurlaub verbracht, heute soll es der Ausgangspunkt auf dem Weg zu einem sicheren Leben sein. Wie hat die Welt sich doch verändert.
 
Am Strand wartet bereits das kleine Motorboot. Aus den Büschen kommen nach und nach einzelne Menschengruppen. Männer, Frauen, Kinder. Jetzt muss es schnell gehen. Jederzeit kann eine italienische Grenzpatrouille auf sie aufmerksam werden. Die Küste steht unter ständiger Beobachtung. Sollten sie erwischt werden, würde Italien, als Verbündeter Deutschlands, Alexander und die anderen Männer als Fahnenflüchtlinge wieder zurück in ihr Heimatland deportieren. Bevor sie in See stechen, muss er den Schlepper bezahlen. 15.000 DM für einen Erwachsenen, 10.000 DM für ein Kind. Sein letztes Erspartes. Nun ist er arm wie eine Kirchenmaus, doch Geld hat für ihn schon lange keine Bedeutung mehr. Sie erwischen einen beengten Platz am Bug des Bootes. Dicht an dicht drängen sich die zwei Dutzend Menschen auf dem schmalen Kahn. Der Bootsführer stößt sie ab. Fast lautlos gleitet das kleine Schiff ins Wasser. Die ersten Meter hören sie nur das Flüstern der Menschen und das leise Rauschen der Wellen. Friedlich scheint der Mond am Himmel wie ein leuchtender Wegweiser in das gelobte Land. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, paddeln sie die Bucht hinaus. Bevor der Motor gestartet wird, blickt Alexander ein letztes Mal zurück auf den verwaisten Strand. Er denkt an Isabella und Stefanie, an sein kleines Haus im hessischen Hanau, an seine geliebte Heimat, die er nun endgültig verloren hat. Sofort kriecht der Schmerz wieder empor, Tränen schießen ihm in die Augen. Zügig wendet er den Kopf und blickt nach vorne. Der Hoffnung entgegen.
 
Tagelang werden sie nun an Bord dieses Bootes verbringen. Ohne Privatsphäre, ohne Möglichkeit zur Körperhygiene, ohne Bewegungsfreiheit. Eingepfercht wie die Hennen in einer Legebatterie. Wie werden die Afrikaner sie empfangen? Mit offenen Armen und voller Barmherzigkeit oder mit Ablehnung und Misstrauen. Willkommenskultur oder Zäune aus Stacheldraht? Alexander weiß es nicht. Bei der entgegengesetzten Flüchtlingswelle, in den Jahren zwischen 2015 und 2019, waren über 15.000 Afrikaner auf dem Weg ins Abendland im Mittelmeer ertrunken. Die Europäische Union, der Friedensnobelpreisträger, hatte diese Menschen ohne große Empathie in den kalten Fluten ersaufen lassen. Warum also sollten die Afrikaner mehr Mitgefühl mit ihnen haben und sie freundlich empfangen?
 
Nach drei Tagen können sie das endlose Blau nicht mehr sehen. Der erste Hunger macht sich breit. Zu Beginn versuchen sie die Kinder mit kleinen Spielchen bei Laune zu halten, inzwischen sprechen sie nur noch das Nötigste und dösen vor sich hin. Ein komatöser Zustand. In der Nacht macht ihnen die Kälte zu schaffen, Max zittert wie Espenlaub. Die raue und stürmische See tut ihr übriges. Tagsüber kreisen die Möwen über ihnen. Alexander wünscht sich, sein Sohn und er wären genauso frei wie sie. Einfach fortfliegen und all das hinter sich lassen. Nur dort verharren, nur dort landen, wo es ihnen gefällt. An einem schönen, friedlichen Ort.
 
Nach weiteren Tagen auf hoher See erkennen sie eines Abends endlich schemenhaft am Horizont die tunesische Küste. In das Hochgefühl mischt sich die Anspannung. Nur noch wenige hundert Meter - beinahe ein Katzensprung. Das Ziel liegt jetzt ganz dicht vor ihnen. Ansteckende Unruhe breitet sich unter den Insassen aus, die leise flüsternd beginnen ihre wenigen Habseligkeiten zusammenzusuchen. Auch Alexander und Max tun es den anderen gleich, als ihnen plötzlich grelles Licht vom Strand entgegenschlägt. Große Scheinwerfer leuchten zur linken und zur rechten Seite, die Silhouetten einzelner Menschen werden sichtbar. Das Boot ist nicht unbemerkt geblieben.
 
Als sie wenig später das kleine Schiff an Land ziehen und zum ersten Mal wieder sicheren Boden unter den Füßen haben, mischt sich die Angst mit dem Glück. Die Verzweiflung mit der Hoffnung. Ein Wirrwarr der Gefühle. Alexander nimmt Max‘ Hand und drückt sie fest.
 
Er nimmt sich vor: Egal was passiert - ich lasse Dich nicht los.


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